Hethiter: Die anatolische Kulttradition und die hethitische Staatsreligion

Hethiter: Die anatolische Kulttradition und die hethitische Staatsreligion
Hethiter: Die anatolische Kulttradition und die hethitische Staatsreligion
 
Die hethitische Religion, wie sie uns vornehmlich in den Texten der Großreichszeit (von etwa 1400 bis kurz nach 1200 v. Chr.) überliefert wird, ist das Produkt einer über Jahrhunderte andauernden Entwicklung, in deren Verlauf es zu einer Verschmelzung von ethnischen und sprachlichen Elementen unterschiedlicher Herkunft kam. Besonders augenfällig wird dies an der Götterwelt, dem Pantheon, des offiziellen Staatskultes, die in der nahe bei der Hauptstadt Hattusa gelegenen zentralen Kultstätte Yazɪlɪkaya in großen Felsreliefs abgebildet wurde und vor allem hurritischen Einfluss zeigt. Ursprünglich dürfte die hethitische Religion im Wesentlichen auf die Vorstellungen der anatolischen Urbevölkerung zurückgehen. Wir haben uns angewöhnt, von der Einwanderung »der Hethiter« zu sprechen, obwohl von einem einheitlichen Volk nicht die Rede sein kann. Die gegen Ende des 3. und Anfang des 2. Jahrtausends v. Chr. nach und nach in Kleinasien in Erscheinung tretenden Einwanderer brachten ihre zum Indogermanischen gehörenden Sprachen mit. Außer diesen Sprachen haben sich (in den ältesten hethitischen Texten) praktisch keine Traditionen der Einwanderer bewahrt: Ihre nomadische Kultur hatte sich der einheimischen städtischen angepasst. Weitere Strömungen kamen hinzu, unter denen die hurritischen (ab der mittelhethitischen Zeit) neben den klassisch mesopotamischen Traditionen die nachhaltigste Wirkung hatten. Die »hethitische« Kultur in all ihren verschiedenen Ausprägungen stellt also erst das Ergebnis der Verbindung dieser verschiedenen Kulturtraditionen dar.
 
Diese Vielfalt verschiedener Kultureinflüsse mit nur geringer Neigung zur synkretistischen Vereinfachung, zur Verschmelzung unterschiedlicher religiöser Traditionen, spiegelt sich auch in der Welt der uns häufig nur dem Namen nach bekannten Götter. So blieben die zahlreichen lokalen Wettergötter neben dem an der Spitze des zentralen Pantheons stehenden Wettergott Taru erhalten und wurden nicht mit ihm gleichgesetzt. Mit einem gewissen Recht also ist immer wieder von den »1000 Göttern des Hatti-Landes« die Rede.
 
Die hethitische Religion stellte die verschiedenen Göttergestalten des Pantheons entsprechend ihrer Position innerhalb des »Systems« oder nach ihren spezifischen Funktionen nebeneinander; der Typus war entscheidend. Erst in einem langwierigen Prozess glichen sich im offiziellen Staatskult die wichtigsten Götter der verschiedenen Kultschichten einander an.
 
Die Gottesvorstellung der Hethiter war sehr »menschlich«. Da die Götter essen und trinken mussten, um leben zu können, benötigten sie die Opfergaben der Menschen. Im Mythos wird von der Geburt ebenso berichtet wie vom gewaltsamen Tod von Göttern. Auch auf menschliche Hilfe konnten die Götter angewiesen sein. Sie konnten zornig werden, aber dem Menschen auch ihre Gunst erweisen; sie besaßen menschliche Stärken und Schwächen. Ihren Willen offenbarten sie unmittelbar, zum Beispiel im Traum, oder mittelbar durch Zeichen. Deshalb kam der Wahrsagekunst, der Mantik, eine große Bedeutung zu. Selbst Marschrouten des Heeres wurden entsprechend dem Ergebnis von Orakelanfragen festgelegt.
 
In typologischer Hinsicht zeigen einige Göttergestalten ein sehr hohes Alter. So der an der Spitze des Pantheons stehende Wettergott Taru oder Tarhunt, der »König des Himmels« und »Herr aller Länder«, häufig mit den Attributen Keule oder Blitz dargestellt. Sein Symbol war der Stier; im hurritischen Bereich entspricht ihm Teschup. Er gebot über Gewitter und Stürme; als Spender des Regens war er gleichzeitig Herr des Wachstums und der Vegetation. Ihm zur Seite stand die Sonnengöttin von Arinna, die »Mutter des Landes«, mit ihrem auf das Hattische zurückgehenden Namen Eschtan, der später in der Form Ischtanu zum Namen des männlichen Sonnengottes wurde. Als Sohn des Wettergottes gilt Telipinu. Von ihm heißt es: »Er bricht die Schollen und pflügt; Wasser leitet er herbei, das Getreide lässt er wachsen.« Er ist ein Vegetationsgott. Der Mondgott, hattisch Kaschku, hethitisch Arma genannt, wurde unter dem Einfluss des Kultes des syrischen Mondgottes von Harran als Herr der Eide verehrt.
 
Im Zuge des immer stärker werdenden hurritischen Einflusses fanden auch Göttergestalten ohne Entsprechung in der einheimischen Vorstellungswelt ihren Eingang in die Götterwelt. An erster Stelle ist hier die Schwester des Teschup, Schauschka (von Ninive), eine Ischtar-Gestalt, zu nennen. In der Mythologie stellt der Kumarbi-Mythos die wichtige Rolle von Teschups Vater Kumarbi als Göttervater heraus. Daneben werden in den Texten auch mesopotamische Göttergestalten erwähnt. Deren kultische Bedeutung blieb jedoch auf den offiziellen Staatskult beschränkt. Die Welt der Götter kannte Hierarchie und Aufgabenteilung. Jeder Gottheit kam ihre spezielle Position zu. All das schlug sich in den umfangreichen Götterlisten der Staatsverträge nieder, die klare Reihenfolgen und Gruppenbildungen nach Typus oder Funktion erkennen lassen.
 
In zahlreichen Tempeln der Hauptstadt, aber auch überall im Land in den Siedlungen oder in Kultstätten außerhalb, etwa auf Bergen, in Hainen, an Quellen und in Grotten, wurde mit großem Aufwand der tägliche Kult vollzogen. Bildbeschreibungstexte vermitteln uns eine deutliche Vorstellung von der Repräsentation der Gottheiten in Statuen, Stelen und Kultgegenständen sowie von der Ausgestaltung der Tempel und sonstiger Kultorte. Meist wurden die Götter anthropomorph, menschenähnlich, dargestellt und mit charakteristischen Attributen versehen. Die Tempel waren nicht nur »Wohnsitz« der Götter, sondern vor allem auch Wirtschaftseinheiten; die Opfer wurden aus Abgaben bestritten. In den zahlreichen Ritualtexten, die einen großen Teil des hethitischen Schrifttums ausmachen, ist die Feier besonderer Feste sehr genau verzeichnet worden. So konnte das große Frühjahrsreisefest fast vierzig Tage dauern. Ähnlich lange wurde das Herbstreisefest, das einfach »Eile«-Fest hieß, gefeiert. Die schriftliche Überlieferung einzelner Festrituale kann bis zum Beginn hethitischer Staatlichkeit zurückverfolgt werden, sie dürften aber in vielen Fällen noch deutlich älter und aus ursprünglich lokalen Traditionen erwachsen sein. Das »Markt(platz)«-Fest zum Beispiel ging mit einer Prozession von Tier- und Symbolstatuetten einher; es zeigt darin deutliche Parallelen zu der materiellen Hinterlassenschaft der Fürstengräber von Alaca Hüyük in Nordanatolien, wo solche Statuetten vom Ende des 3. Jahrtausends gefunden wurden. Als Gegenleistung für die kultische Verehrung erhoffte man sich von den Göttern Schutz und materielles Wohlergehen, Rat und Hilfe oder die Erfüllung bestimmter Wünsche. Allerdings drohten bei kultischen Versäumnissen oder sonstigen Verfehlungen harte Strafen, von denen auch die Familie des Schuldigen, im Fall des Königs auch das ganze Land betroffen sein konnten. So sah Mursili II. in der Pest, die lange Jahre während seiner Regierung unter der Bevölkerung wütete, eine Strafe der Götter für einen Vertragsbruch seines Vaters.
 
Die Macht des Königs kommt unmittelbar von den Göttern. Sie haben ihn - nach einem bereits in althethitischer Zeit niedergeschriebenen und in ähnlicher Form immer wieder aufgezeichneten Text - als »Verwalter« des Landes eingesetzt und mit den Insignien seiner Herrschaft ausgestattet: »Mir, dem König aber, haben die Götter Sonnengöttin und Wettergott das Land und mein Haus übergeben«. Somit war der König für das Wohlergehen seines Landes und seines Volkes verantwortlich. In einem alten Text wird der zukünftige König dazu ermahnt, die Hungernden zu speisen, die Durstigen zu tränken und denen, die unter der Kälte leiden, Kleider zu geben und sie zu wärmen.
 
Verschiedene hethitische Könige standen zudem in einer ganz besonderen persönlichen Beziehung zu einer bestimmten Gottheit des Pantheons. Tutchalija IV. zum Beispiel ließ sich in Yazɪlɪkaya, ähnlich wie auf Siegeln, mit seinem persönlichen Schutzgott Scharruma abbilden: Dabei legt der an Gestalt deutlich größere Gott schützend seinen Arm um den an seiner Seite stehenden, kleiner dargestellten König.
 
Wie der König war auch die Königin Trägerin eines eigenständigen Amtes mit dem Titel »tawananna«, dessen Aufgaben im Einzelnen nicht recht deutlich sind. Dieses Amt behielt die Königin, auch wenn ihr Gatte starb und sein Nachfolger den Thron bestieg. Die neue Königin übernahm das Amt erst nach dem Tod ihrer Vorgängerin. Der König vereinigte in seiner Person nicht nur die oberste weltliche Macht, sondern war auch oberster Priester, der in der Regel an den Festritualen teilnehmen sollte. Indem er Opferspeisen oder Trankspenden, die ihm gereicht wurden, berührte, nahm er unmittelbar am Ritual teil. Meist führten zwar Kultfunktionäre oder Priester stellvertretend für ihn die konkreten Opferhandlungen aus. Mit der Ausdehnung des hethitischen Staates aber nahmen seine kultischen Verpflichtungen immer mehr zu. Befand sich der König, wie es im Verlauf der hethitischen Geschichte häufig der Fall war, im Sommer entfernt vom hethitischen Kernland auf Feldzügen, dann fiel es schwer, diesen Pflichten nachzukommen. Gelang es nicht, dafür die Zeit zu finden, musste durch Orakel festgestellt werden, welche Gottheit über die Vernachlässigung ihres Kultes erzürnt war und wie man sie wieder besänftigen konnte oder ob die traditionell dargebrachten Opfer noch von ausreichendem Umfang und befriedigender Qualität waren.
 
Mit dem Untergang des Staates endet auch die unmittelbare Quellenüberlieferung zur hethitischen Religion. Ein Nachleben ist allenfalls in einzelnen Aspekten bei den jüngeren anatolischen Staaten, etwa den Phrygiern, oder den noch einige Zeit weiter bestehenden hethitischen Kleinkönigtümern in Syrien festzustellen.
 
Dr. Jörg Klinger

Universal-Lexikon. 2012.

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